„Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert. “
Am Abend des 26. Augusts 2013 erschoss sich Wolfgang Herrndorf nach schwerer Krankheit am Ufer des Hohenzollernkanals in Berlin. Trotz eines unheilbaren Hirntumors hatte Herrndorf nicht aufgehört zu schreiben: Nach seinem Tod wurde Ende 2013 zunächst sein Tagebuchblog Arbeit und Struktur in Buchform veröffentlicht und ein letzter Roman, Bilder deiner großen Liebe, der von Marcus Gärtner und Kathrin Passig aus von Herrndorf geschriebenen Fragmenten zusammengefügt und herausgegeben worden ist, erschien im September 2014.
Obwohl Herrndorf selbst seinen letzten Roman als unvollständige „Tschick-Fortsetzung aus Isas Perspektive1“ und „zweites Roadmovie“ eingestuft hat, ist Bilder deiner großen Liebe viel mehr als das. Unvollständig ist der Roman nur in der Theorie, in der Praxis ist er eine souverän aufgezogene Erzählung: Die von den Herausgebern aneinander gestrickten Abenteuer Isas lassen sich fließend, bruchlos lesen und das Ende erfüllt alle Lesererwartungen. Wer Tschick und seine beiden Hauptfiguren, die Jungs Maik und Tschick, ins Herz geschlossen hat, wird sicherlich mit Vergnügen die tolle Isa wiederfinden und die Geschichte aus ihrer Perspektive lesen. Wer mit dem Werk Wolfgang Herrndorfs vertraut ist, wird sich freuen über die für Herrndorf typische, wirkungsvolle und äußerst unterhaltsame Abfolge von lustigen, berührenden und irritierenden Stellen, die oft all das zugleich sind. Wohlbekannte, bei Herrndorf beliebte Themen wie die Reise, die neben Tschick auch in seinem Debütroman In Plüschgewittern auftaucht, und das Verrücktsein, das im Tagebuchblog großen Raum einnimmt, finden auch Eingang in diesen letzten Roman. Diesmal soll aber zu Fuß gereist werden und das Verrücktsein soll fiktiv sein.
Mit Bilder deiner großen Liebe greift Herrndorf zwar auf eigene Tradition und Themen zurück, jedoch bearbeitet er sie neu – und – so könnte man sagen – er bearbeitet sie auf schöne Weise. Mit diesem Roman knüpft er aber zugleich an eine uralte literarische Tradition an, die Tradition des Außenseiterromans. Das Buch folgt nämlich einem in der Außenseiterliteratur immer wiederkehrenden Schema: Die Hauptfigur, in der Regel ein Mann, im Herrndorfs Roman aber das heranwachsende Mädchen Isa, flüchtet aus einer Anstalt und bricht in die freie, weite Welt, in die Natur aus. Weiterhin erinnert neben dem gemeinsamen Thema die (theoretische) Unvollständigkeit des Romans an ein bestimmtes kanonisches Werk der Gattung, die Erzählung Lenz von Georg Büchner. Diese wahrscheinlich unbeabsichtigte Ähnlichkeit ist umso interessanter, als der Autor das Fragment einige Zeit vor dem Verfassen seines letzten Buches gelesen hat:
„Lektüre: 'Lenz'. Mein Einwand gegen die Erzählung der gleiche wie vor zwanzig Jahren: die poetische Einfühlung in das Kranke. Die berühmte Stelle, Lenz wolle auf dem Kopf laufen, kauf ich nicht, zu offensichtlich-gewollter Ausdruck der Verkehrtheit. Später Lenz' Angst im Dunkeln, er hätte der Sonne nachlaufen mögen: Nein, hätte er nicht.
Und natürlich kriegt mich der Text dann doch; über die Sprache, die Natur, die Unruhe und den sich aufsummierenden Irrsinn. Am Ende beim Lesen eine Gänsehaut. Hab ich, glaub ich, auch noch nie gehabt.“
Durch diese Äußerung kündigt Herrndorf seinen Blog-Lesern unbewusst schon vier Jahre vor der Veröffentlichung seines letzten Romans an, dass sein Außenseiterroman von kanonischen Werken der Gattung, z.B. Döblins Ermordung einer Butterblume und natürlich Büchners Lenz, abweichen wird. Weder eine detaillierte medizinische Beschreibung noch ein poetischer Blick sind im Roman Bilder deiner großen Liebe zu finden, sondern die Dinge werden einfach erzählt, wie sie sind :
„Es macht einem nur wahnsinnig Angst, wenn man merkt, dass man gerade auf den Gehweg kackt und weiß, dass das nicht üblich ist und dass so was nur Leute machen, die verrückt sind, und diese Angst macht, dass es einem auch wieder ganz gleichgültig ist, was die anderen denken, ob die jetzt gucken oder nicht, weil man in dem Moment wirklich andere Probleme hat. Und mein Problem war eben, dass ich langsam wieder verrückt wurde. “
Weiterhin erzählt Isa, mit der die Leser sehr schnell wegen ihres Freimuts und ihrer Klugheit und trotz ihrer Unzuverlässigkeit sympathisieren, selbst ihre Geschichte, was die Distanz zwischen den geistig gesunden Lesern und der verrückten, psychisch kranken Isa verringert. Die Grenzen zwischen ‘Normalität’ und ‘Verrücktheit’ verwischen und es stellt sich die Frage: Kann Wahnsinn auch Sinn machen? Den ganzen Roman hindurch führt Isa nämlich den Leser dazu, ‘Normalität’ und ‘Wahnsinn’ in Frage zu stellen.
„Und wenn man diesen Gedanken zu Ende denken will, dreht er sich unendlich im Kreis, und wenn man aus dieser unendlichen Schleife nicht mehr rauskommt, ist man wieder verrückt. Weil man etwas verstanden hat. “
Mit seinem posthum erschienenen Roman Bilder deiner großen Liebe greift Herrndorf auf charakteristische Themen und Motive seines eigenen Werkes, aber auch der modernen deutschen Literatur insgesamt zurück, die den Wahnsinn von E.T.A. Hoffmann über Bücher bis hin zu Döblin und Unica Zürn immer wieder zum Gegenstand des Erzählens gemacht hat. Er stellt sein Buch also in seine persönliche Tradition und zugleich in die Tradition einer Gattung. Jedoch weicht er, und dies geschieht immer an interessanten Punkten, sowohl von seinen eigenen Modellen als auch von den literarischen Konventionen ab, und bringt dem Leser neben Gelächter und Rührung auch Denkanstöße. Ein weiteres Beispiel für die Abweichung von der Norm in diesem letzten Roman wäre Herrndorfs Darstellung von ‘Weiblichkeit’ – das ist aber eine andere Geschichte.
Sophie Adriaens est diplômée ULg en Langues et Lettres modernes, orientation germanique. Elle travaille actuellement au bureau exécutif de l’Union des Théâtres de l’Europe, à Düsseldorf (Allemagne).
Tschick est paru en français sous le titre : Good bye Berlin Arbeit und Struktur est paru en français sous le titre Suivons en dansant l'ombre de la nuit