Gedichte über Giersch in diesen Zeiten?

Der Preis der Leipziger Buchmesse geht an den Lyriker Jan Wagner

 

Le poète Jan Wagner remporte le Prix de la foire du livre de Leipzig

Pour les médias allemands au début du mois de février 2015, la nomination en elle-même semblait déjà digne d'être soulignée : „Regentonnenvariationen“ de Jan Wagner était le premier recueil de poésie à s'être hissé jusqu'à la short list du Prix de la foire du livre de Leipzig, un des prix littéraires allemands les plus connus, qui est décerné depuis 2005 selon plusieurs catégories. Depuis le 12 mars, c'est officiel : Wagner, né à Hambourg en 1971 et vivant actuellement à Berlin, s'est adjugé le concours. Ce qui s'est passé ensuite est symptomatique des débats littéraires dans la rubrique culturelle allemande : les uns exultent et se répandent en commentaires dithyrambiques, qui semblent aussi finement ciselés que les poèmes primés eux-mêmes ; les autres réagissent, presque par réflexe, avec des manifestations publiques d'aversion et rivalisent dans leur empressement à déverser moqueries et méchancetés sur ce lauréat perçu comme illégitime. Vera Viehöver traite dans son article des réactions de la critique et, ce faisant, se frotte à un débat typiquement allemand.

regentonnenvariationenSchon die bloße Nominierung war den deutschen Medien Anfang Februar 2015 eine Meldung wert: Jan Wagners „Regentonnenvariationen“ hatten es als erster Lyrikband überhaupt auf die Short List des Preises der Leipziger Buchmesse geschafft, eines der bekanntesten deutschen Literaturpreise, der seit 2005 in mehreren Sparten verliehen wird. Seit dem 12. März ist es nun amtlich: Wagner, 1971 in Hamburg geboren und heute in Berlin lebend, hat den Wettbewerb für sich entschieden. Was daraufhin passierte, ist symptomatisch für die Literaturdebatten im deutschen Feuilleton: Die einen jubeln „Sensation!“ und ergehen sich in Lobeshymnen, die nicht minder feinziseliert daherkommen als die ausgezeichneten Gedichte selbst; die anderen reagieren geradezu reflexartig mit öffentlichen Aversionsbekundungen und wetteifern darin, Spott und Häme über den angeblich zu Unrecht Preisgekrönten auszuschütten.

Doch zunächst zur Vorgeschichte: Jan Wagner ist in der deutschen Lyrikszene schon seit längerer Zeit eine der hervorstechendsten Persönlichkeiten. Bereits sein erster Gedichtband, Probebohrung im Himmel (2001), brachte ihm Auszeichnungen und Förderstipendien ein, und die in ihn gesetzten hohen Erwartungen erfüllte er durch regelmäßige Publikation weiterer Bände. Neben Nico Bleutge, Nora Bossong, Björn Kuhligk, Silke Scheuermann, Tom Schulz und Uljana Wolf gehört er zu den wenigen jüngeren deutschen Lyrikern, deren Neuerscheinungen von den Kritikern der großen Feuilletons, in denen zweit- und selbst drittklassige Prosatexte regelmäßig rezensiert werden, immerhin sporadisch einer Besprechung gewürdigt werden.

Jan Wagners Regentonnen-Gedichte, was auch immer man sonst über sie sagen mag, sind raffinierte und formal durchgestaltete Sprachkunstwerke, die sich – vor aller Semantik – zuallerst optisch und akustisch erschließen. Im poetischen Garten, wo die Regentonne steht, da wuchern hemmungslos Alliterationen und Assonanzen, da tummeln sich ungeniert Vokalparallelen und Konsonantenhäufungen. An die Stelle traditioneller Reime treten oft eigenwillige lautliche Korrespondenzen: Da reimt sich „rappe“ auf „rhabarber“ und „stute“ auf „staude“. Diese Gedichte übersetzen zu wollen wäre wohl ein fast unmögliches Unterfangen, wie sich leicht am ersten Gedicht des Bandes zeigen lässt, das sich wie eine Engführung der Wagner’schen Verfahren liest:

 

giersch

nicht zu unterschätzen: der giersch
mit dem begehren schon im namen – darum
die blüten, die so schwebend weiß sind, keusch
wie ein tyrannentraum.

kehrt stets zurück wie eine alte schuld,
schickt seine kassiber
durchs dunkel unterm rasen, unterm feld,
bis irgendwo erneut ein weißes wider-

standsnest emporschießt. hinter der garage,
beim knirschenden kies, der kirsche: giersch
als schäumen, als gischt, der ohne ein geräusch

geschieht, bis hoch zum giebel kriecht, bis giersch
schier überall sprießt, im ganzen garten giersch
sich über giersch schiebt, ihn verschlingt mit nichts als giersch.

 

Welche Möglichkeiten hätte etwa die französische Sprache, die dieses pseudo-barocke Sonett durchgängig tragende Verbindung von Giersch („podagraire“) und Gier („avidité“, „convoitise“, „désir“) deutlich zu machen, ganz zu schweigen von den weiteren Sprachbeziehungen, die das Wuchern des Unkrauts als ein Wuchern lautverwandter Wörter nachvollziehbar machen?

Doch zurück zur Debatte um die Preisverleihung in Leipzig: Das Wort „Sensation“ war in aller Munde, als Jan Wagners Sieg bekannt wurde. Wiebke Porombka, Kritikerin der Wochenzeitung DIE ZEIT, hält die Entscheidung zwar nicht gleich für eine Sensation, doch immerhin für eine „glückliche Fügung“ und preist Wagner als „einen der virtuosesten Lyriker, die wir gegenwärtig haben“, andere Kritiker äußern sich ähnlich. Fast scheint die Zustimmung einhellig zu sein, doch nein: wie auf Knopfdruck folgt auf das Lob die Schmäh. Wenn diese Literatur so gut gefällt, dass sie die Stimmen aller Jurymitglieder und die Lobeshymnen der allermeisten Kritiker auf sich zu vereinigen vermag, dann muss doch etwas faul an der Sache sein… Haben sich die Kritiker einlullen lassen? Haben sie Kitsch für Kunst genommen? Haben Sie wirklichkeitsfernen, unpolitischen Schund ausgezeichnet? Auf die Pfui-Wörter der derzeitigen Literaturdebatten muss man nicht lange warten: artifiziell – anämisch – verblasen – privatistisch – irrelevant – reaktionär!

Nicht zum ersten Mal übernimmt Spiegel-Kritiker Georg Diez, der sich in der Rolle des antifaschistischen Oberwachtpostens im bundesdeutschen Feuilleton schon seit einiger Zeit ausnehmend gut gefällt, den Part, den soeben Gekrönten scharfzüngig als unpolitischen Scharlatan zu entlarven: Die Regentonnen-Variationen seien nichts anderes als „eine Poetologie der Überflüssigkeit, der Selbstabschaffung, ein Offenbarungseid vor der Gegenwart, zu der es, so scheint es, nichts zu sagen gibt.“ Primär gilt die Kritik jedoch gar nicht Wagner, sondern den von Diez verachteten feingeistigen Kritikerkollegen, die seiner Ansicht nach „zimt- und zuckrige Entscheidungen“ fällen: „Man kann solche Ulrich-Greiner-Literatur natürlich unter Artenschutz stellen und dann mit Preisen und Stipendien stützen und davon reden, dass man hier etwas ,abseits des Mainstreams‘ pflege, man kann, wenn man es nur oft genug sagt, sogar wohl selbst irgendwann daran glauben – aber in extrem politischen Zeiten, in denen tatsächlich viele der Sicherheiten im Inneren wie im Äußeren wegbrechen, ist so eine Feier der Literatur als ewige Eingeweideschau fast schon reaktionär.“

Ist es also in diesen Zeiten fast ein Verbrechen, ein Gedicht über Giersch zu schreiben? Ausgerechnet der linksgerichtete Freitag verteidigt Wagner gegen solche Vorwürfe. In der deutschen Gegenwartsliteratur sei glücklicherweise beides präsent, schreibt dort Jan Drees: das explizit Politische, z.B. in Gestalt der Romane Vielleicht Esther von Katja Petrowskaja und Im Stein von Clemens Meyer, aber auch das Indirekte und Hintergründige, ja vielleicht auch das „Superprivatistische“. Man dürfe Jan Wagner aber nicht dafür verantwortlich machen, dass die neu erscheinende Literatur tatsächlich zu 95 % „belangloser Quatsch“ sei. Wagners Gedichtband sei eben „hintersinnig, keine krawallige Talkshow-Antwort.“ Und in der Tat: Der angebliche Ästhetizismus wird in Gedichten wie dem oben zitierten Gedicht so offen zur Schau gestellt, dass es schon einige Naivität verlangt, ihn für bare Münze zu nehmen. Hier nimmt sich jemand heraus, auch in finsteren Zeiten die Lust am Spiel mit der Sprache in vollen Zügen auszukosten. „Darf“ man das? Die Frage allein ist sehr deutsch. Die Antworten, zumal die reflexartig empörten eines Georg Diez, sind es noch mehr.

 

Vera Viehöver
Mars 2015

 

crayongris2


Vera Viehöver
enseigne la littérature allemande à l'ULg. Ses principales recherches portent sur la littérature du 18e siècle, la littérature judéo-allemande, la traduction littéraire et l'autobiographie en tant que genre littéraire.

 

Literatur:

Jan Wagner: Regentonnenvariationen. Gedichte. Berlin: Hanser 2014.
Georg Diez: Weg mit all den Weidenkätzchen, in: spiegel-online, 13.3.2015.
Jan Drees: Was darf Literatur? in: derFreitag-online, 18.3.2015.
Wiebke Porombka: Jan Wagner. Der Dichter auf verlorenem Posten, in: zeit-online, 12.3.2015.