Terézia Mora : Das Ungeheuer

Am 1. Oktober 2013 fand im Rahmen der „Literarischen Begegnung Aachen – Lüttich“ wieder der „Lütticher Vorentscheid“ zum Deutschen Buchpreis statt, mit dem der Börsenverein des Deutschen Buchhandels zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse den „besten Roman in deutscher Sprache“ auszeichnen will. Hohe Platzierungen auf den Bestsellerlisten und zahlreiche Lizenzverkäufe sind den Preisträgern des populären Preises garantiert. Wie in der Ausgabe von Mixed Zone 3 nachzulesen ist, haben die Aachener und Lütticher Studenten mit der Wahl ihrer Favoriten, darunter auch die aktuelle Preisträgerin Terézia Mora, wieder ein gutes Gespür bewiesen.

Mit Terézia Mora hat die Jury des Deutschen Buchpreises, mit dem bisher bevorzugt Familienromane mit deutscher Kriegs- bzw. Nachkriegsthematik prämierte wurden, am 7. Oktober 2013 eine mutige Wahl getroffen, denn ihr Roman Das Ungeheuer ist im Gegensatz zu den Romanen der Laureaten der vergangenen Jahre alles andere als massentauglich. Wohl auch aus diesem Grund hob Jurysprecher Helmut Böttiger vor der Bekanntgabe des Preisträgers hervor, dass Leser nicht unterfordert werden sollten, und gab an, dass 2013 ausschließlich ästhetische Maßstäbe im Vordergrund gestanden hätten.

ungeheuerDas Ungeheuer, der dritte Roman der in deutscher Sprache schreibenden gebürtigen Ungarin, erweist sich bereits auf den ersten Blick als außergewöhnlich. Auf etwa zwei Drittel der Seitenhöhe des mit zwei Lesebändchen ausgestatteten Buches befindet sich ein schwarzer Strich, der sich durch das ganze Buch zieht und die Seiten jeweils in zwei Bereiche teilt. Text findet der Leser zunächst nur in der oberen Hälfte, erst nach achtzig Seiten erscheint auch in der unteren Hälfte Text. Diese Zweiteilung der Buchseiten ermöglicht es, zwei Stimmen parallel zu führen: Oben die Stimme von Darius Kopp, dem IT-Spezialisten, der um seine tote Frau Flora trauert, und unten die Stimme von Flora selbst, die sich einige Wochen vor Beginn der Erzählung das Leben genommen hat.

Kopp, der nach Floras Selbstmord völlig zurückgezogen und verwahrlost lebt, entdeckt auf dem Laptop seiner Frau, die als Studentin nach Deutschland gekommen ist und in seiner Gegenwart nie ein Wort Ungarisch gesprochen hat, unzählige Dateien in ungarischer Sprache. Bei den Dateien, die er von einer Studentin übersetzen lässt, handelt es sich um Aufzeichnungen, die Floras Erlebnisse in Deutschland und ihre Depression dokumentieren und die Kopp (und den Leser) ab diesem Moment begleiten. Bei Floras Aufzeichnungen handelt es sich um verschiedene Textarten: Tagebucheinträge, poetische Texte, fragmentarische Aufzeichnungen, philosophische Reflexionen, Krankenakten und psychologische Gutachten.

Kopp muss feststellen, wie wenig er über seine Frau weiß, und beschließt nach Ungarn zu reisen, um mehr über ihre Vergangenheit zu erfahren und einen geeigneten Ort für die Beisetzung ihrer Asche zu finden. Seine Suche erweist sich jedoch als erfolglos und es zieht ihn während sechs Monaten weiter über Tschechien nach Albanien, Bulgarien, die Türkei, Georgien und Armenien bis nach Athen. Ständiger Begleiter sind dabei Floras Aufzeichnungen und ihre immer düsterer werdende, vom Ungeheuer Depression geprägte Stimme, die erst verstummt, als Kopp in Athen auf Christina trifft, die sein Schicksal teilt. Auch ihr Mann hat sich nach einer schweren und jahrelangen Depression das Leben genommen. Sie erklärt ihm, dass eine Grenze zwischen den Lebenden und den Toten verlaufe und ein Lebendiger nicht mit einem Toten leben könne. Kopp begreift allmählich, dass auch er sich von seinem Ungeheuer, der Trauer und den Schuldgefühlen, befreien muss.

Moras knapp 700 Seiten schwerer Roman wird seinem Titel voll und ganz gerecht. Er beschreibt nicht nur mit großem Einfühlungsvermögen und enormer Klangkraft den Kampf gegen das Ungeheuer Depression, sondern konfrontiert auch den Leser mit einem voluminösen Literatur-Ungeheuer, das nur schwer zu bewältigen scheint. Die Zweiteilung des Textes erlaubt einerseits die Gegenüberstellung der Stimmen des Trauernden und der Verstorbenen, andererseits unterbricht sie auch den Lesefluss und lockert diesen auf, wobei die Nummerierung der einzelnen Kapitel den Leser sicher durch die Ober- und Unterwelt des Textes und die verschiedenen Perspektiven führt. So stellt der Leser schließlich fest, dass das Ungeheuer Literatur (im Gegensatz zum Ungeheuer Depression) nicht unbesiegbar ist. Wer den Kampf wagt und einen langen Atem beweist, wird trotz der erdrückenden Thematik des Textes Freude daran finden und mit einem eindrucksvollen Stück Literatur belohnt werden.

Karin Houscheid
Février 2014

Terézia Mora: Das Ungeheuer, München 2013.

crayongris2Karin Houscheid est chercheuse en langue et littérature allemandes modernes. Ses recherches doctorales portent sur la traduction et les stratégies de transfert interculturelles, les prix littéraires et le marché du livre.