Michael Köhlmeiers Erzählung Das Mädchen mit dem Fingerhut

KohlmeierJenseits von Mitleid und Rührung

Gleich zwei Referenzen auf Märchen und Mythologie enthält der Titel von Michael Köhlmeiers Erzählung Das Mädchen mit dem Fingerhut (München: Carl Hanser Verlag 2016): Unwillkürlich denkt man an Hans Christian Andersens bettelarmes „Mädchen mit den Schwefelhölzern“, das in einer eiskalten Silvesternacht verbotenerweise die Schwefelhölzer, die es verkaufen soll, nacheinander anzündet, um sich zu wärmen, und im Licht der kleinen Flammen Traumvisionen hat, bis in einer letzten Vision die verstorbene gute Großmutter erscheint und das Mädchen mit sich fort in den Himmel trägt. In irischen Volksmythen ist der Fingerhut die Kopfbedeckung der Elfen; man glaubte auch, er schütze gegen den bösen Blick oder mache gar unsichtbar und damit unangreifbar.

Beide Assoziationen führen mitten ins Zentrum von Michael Köhlmeiers vordergründig realistisch erzählter Geschichte (die Gattungsangabe „Roman“ beruht vermutlich auf strategischen Überlegungen, denn man liest den Text in nicht mehr als zwei Stunden), die sich auch als modernes Märchen verstehen lässt, und dies nicht nur wegen der vielfältigen Bezugnahme auf Märchenmotive, sondern auch wegen des Verzichts auf Realitätsmarker wie Personen- und Ortsnamen oder Zeitangaben sowie des Fehlens einer einfühlenden Erzählhaltung. Im Mittelpunkt steht ein offenbar elternloses Mädchen, zunächst namenlos, später Yiza genannt, das in einer ebenfalls namenlosen Stadt allmorgendlich von ihrem Onkel ausgesetzt wird, damit sie sich tagsüber alleine durchschlagen möge, und allabendlich wieder von einem Kleinbus voller Männer aufgelesen wird. Eines Abends jedoch steht der Onkel nicht an der verabredeten Stelle – und Yiza ist mutterseelenallein in der dunklen, erbarmungslosen, winterkalten Stadt.

So könnte eine tränenselige Geschichte um das Schicksal eines orientierungslos umherirrenden unbegleiteten Migrantenkinds in einer westlichen Großstadt beginnen, die dem Leser vor allem eines abverlangte: „Betroffenheit“. Doch der mehrfach preisgekrönte österreichische Autor Michael Köhlmeier, der übrigens – es wundert nicht – auch als Herausgeber von Märchen und Mythen hervorgetreten ist, konterkariert diese Erwartungen gründlich. Ohne seinen Lesern irgendeine Form wohliger Einfühlung in das Schicksal eines obdachlosen, Hunger und Kälte ausgesetzten Kindes zu erlauben, erzählt er von einem Leben, das nicht mehr ist als ein Überleben von Tag zu Tag. Dies tut er in einem derart reduzierten, von aller Geschmeidigkeit gereinigten Stil, dass man versteht: Hier wird mit Bedacht die Sprache auf das Allernotwendigste zurückgeworfen, hier wird auch die Sprache gezwungen, am Existenzminimum zu leben.

Als das Mädchen nach vergeblichen Versuchen, sich in der Stadt zu orientieren und Ess- und Trinkbares zu finden, in einem Kaffeehaus erschöpft einschläft, wird es von der Polizei aufgegriffen und in ein Heim gebracht, wo man seine stinkenden Kleider vernichtet, es wäscht und neu einkleidet. Yiza kann sich mit dem sie freundlich umsorgenden Heimpersonal nicht verständigen, sie spricht eine andere Sprache –- welche, das erfährt man nie. Auch die anderen Kinder versteht sie nicht, bis auf einen, den vierzehnjährigen „Großen“, der ihre Sprache spricht und zu ihrem Beschützer wird. Ein anderer Junge, später einfach „der Freund“ genannt und ebenfalls unbekannter Herkunft, schenkt ihr unvermutet einen Fingerhut aus glänzendem Messing, den sie an den durch eine Glasscherbe verletzten Daumen steckt und fortan wie einen Talisman hüten wird. Gemeinsam mit Schamhan, dem Großen, und Arian, dem Freund, bricht sie noch in der ersten Nacht aus dem Heim aus, ungeachtet dessen, dass sie, die süße Kleine, ein „Liebling“ (31) war, der besser behandelt wurde als andere. Zu dritt sei man sicherer, erklärt Schamhan: „Einzelnen Kindern laufe man nach. Drei Kinder seien wie eine Familie.“ (44) In der neu entstandenen Familie kann sich jedoch nur der Große mit beiden anderen verständigen, er ist der Dolmetscher; Arian und Yiza haben keine gemeinsame Sprache und kommunizieren schweigend, bis sie allmählich erste Wörter austauschen: „Yiza, sagte er, Arian, sagte er. Und er sagte: Nichts. Mehr Worte hatten sie nicht gemeinsam.“ (85)

Auf der Suche nach Wasser, Konservendosen und Brot, nach Decken und Planen, nach Schlupflöchern zum Schlafen durchstreifen die drei Kinder kreuz und quer die Großstadt, als sei sie ein großer winterlicher Urwald, in dem sie ausgesetzt worden wären. Sie betteln und stehlen, nisten sich kurzfristig in Wohnungen ein wie Fremdwohner, die nichts wollen als sich aufwärmen und die Lebensmittelschränke plündern. Als sie nach einem dieser Einbrüche gefasst werden und Schamhan von einem Betrunkenen niedergestreckt wird, fliehen die beiden anderen kurzerhand ohne ihn aus der Polizeistation. Der Große verschwindet aus der Geschichte so plötzlich, wie er gekommen ist, und dem Leser wird keine Zeit gelassen, den Auf-der-Strecke-Gebliebenen zu bedauern. Ohne Atempause geht es weiter: Arian und Yiza, wie ein Geschwister-, ja fast wie ein kindliches Liebespaar zusammengeschweißt, ziehen nunmehr zu zweit durch die Kälte, bis Yiza schwer erkrankt und von einer mitleidigen Villenbesitzerin, in deren Gartenhaus die beiden Kinder Unterschlupf gefunden hatten, vor dem sicheren Tod gerettet wird. Happy End – so möchte man zumindest gerne glauben, wenn die zierliche und nicht mehr ganz junge Renate wie eine gute Fee auftaucht und die hoch fiebernde Yiza in ihr Haus aufnimmt, sie päppelt, umsorgt, sich zu ihrer Oma ernennt und eine umfassende Resozialisation einleitet: „Heute schläfst du. Dann essen wir gemeinsam. Dann lernen wir. Dann lernst du meine Sprache. Dann leben wir zusammen. Du wirst sehen.“ (127)

So weit kommt es nicht. Denn vielleicht ist Renate auch die böse Hexe, und vielleicht ist Arian Hänsel, der diesmal Gretel aus dem Käfig im Pfefferkuchenhaus befreit, indem er die Hexe eines Tages aus dem Hinterhalt überfällt, um mit Gretel zu fliehen. Vielleicht ist Renate aber doch nur eine beherzt helfende Frau, die von brutalisierten Kindern kaltblütig ausgenutzt und niedergeschlagen wird. Köhlmeiers Schreibweise lässt keine der beiden Lesarten als die intendierte erkennen. Der Winter ist vorbei, als Arian und Yiza gemeinsam in ihre Welt zurückkehren: „Arian ist der Kapitän. Er geleitet das Schiff in den Sommer. Die Freunde, das sind eine Horde von Zerlumpten, die bereits zu alt sind für Mitleid und Rührung.“ (140) Köhlmeier packt seine Leser an ihrem Helfersyndrom: Du Opfer – ich Helfer, du leidend – ich mitleidend, so lautet dessen Logik. Eine Logik, die hier ebenso wenig greift wie die entgegengesetzte, die Logik (literarischer) Sozialromantik: Ich gefangen in den Zwängen der Zivilisation – du wild und frei in einer wunderbaren Sphäre jenseits davon. Unwirtlich sind bei Köhlmeier die Städte wie die Wälder. Und unwirtlich ist auch die knappe, nackte Sprache, die den wohligen Leserausch verweigert, darum jedoch umso intensiver nachwirkt.

 

Vera Viehöver
Mai 2016

 

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Vera Viehöver
enseigne la littérature allemande à l'ULg. Ses principales recherches portent sur la littérature du 18e siècle, la littérature judéo-allemande, la traduction littéraire et l'autobiographie en tant que genre littéraire.